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LitauenKarte1

Reise nach Vilnius

(1993)

Kurz bevor Papst Johannes Paul II im Jahre 1993 das katholisch geprägte Land Litauen mit seiner Anwesenheit beehrte, haben wir der Hauptstadt Vilnius einen Besuch abgestattet.

Eine solche Reise war damals noch recht abenteuerlich, zumal wir mit dem Zug gereist sind. Die Strecke verlief zu der Zeit noch über Weißrussland.

Heute fährt man meistens mit dem Bus über die polnisch-litauische Grenze und in einigen Jahren wieder mit dem Zug über die (geplante) neue Hochgeschwindigkeitsstrecke Rail Baltica nach Riga und Tallin.



Hochauflösende Karte von Litauen, created with GMT and SRTM data by the Author Equestenebrarum. Die Grafik ist unter der Lizenz "Creative Commons Attribution/Share Alike" cc-by verfügbar. http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 Quelle: http://commons.wikimedia.org
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Bis Mitte der 90er Jahre gab es noch einen durchgehenden Schlafwagenzug von Berlin nach St.Petersburg, den "St. Petersburg-Express" (D298/299) der Deutschen Reichsbahn (DR). Der wurde in Berlin-Lichtenberg eingesetzt und bestand aus Weitstreckenschlafwagen der Sowjetischen Staatseisenbahn (SZD - "Sowetskije scheles-
nyje dorogi"- heute RZD).

Der Zug fuhr am frühen Abend in Berlin los, passierte in der Nacht Warschau und erreichte dann am frühen Vormittag Bialystok.


Dieses Foto ist verfügbar unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Author=Smiley.toerist, Title: "Sleeping-car Oostende Moscow in Liege-Guilemins" , http://commons.wikimedia.org/wiki/Commons:GNU_Free_Documen
tation_License_1.2?uselang=de
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Die Schlafwagen der SZD waren nicht luxuriös, sondern nur für die artgerechte Haltung von Reisenden konzipiert. Die Abteile hatten vier Betten mit leidlich bequemen Matratzen. Insgesamt waren die Abteile bzw. der ganze Schlafwagen mit viel Holz und Resopal robust gebaut. Am Ende des Waggons hatte die Schlafwagenbetreuerin ihr Dienstabteil und darin stand bzw. hing ein typisch russischer Samowar, um den Gästen ein Glas Tee bieten zu können.
Sie hatte auch noch andere Getränke im Angebot und ansonsten gab es noch einen Speisewagen (den wir aber erst auf der Rückfahrt genutzt haben).
Ganz am Ende des Waggons befand sich die anfangs noch saubere Toilette und auf der Plattform im Übergang zum Nachbarwaggon durfte geraucht werden.

An allen Fenstern hingen die in Russland unvermeidlichen halbhohen Gardinchen.

Bei der Hinfahrt teilten wir unser Abteil mit einigen Rucksacktouristen (Woher, weiß ich nicht mehr. Wir haben uns jedenfalls gemischtsprachlich unterhalten)
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Dank einiger Bettschwere durch Wein und Bier konnten wir einigermaßen schlafen und wachten auf, als die Sonne schon am Himmel stand. Nach Morgentoilette, Tee/Kaffee und mitgebrachtem Frühstück konnten wir dann ein Stück polnischer Landschaft betrachten.
Die empfanden wir als sehr "naturwüchsig" und wir hatten das Gefühl, das gewohnte geordnete zivilisatorische Umfeld Westeuropas bereits ein gutes Stück hinter uns gelassen zu haben. Hinter der Grenze nach Weißrussland war es allerdings noch schlimmer, was uns erst auf der Rückfahrt so richtig bewusst wurde. Denn sobald wir auf dem Rückweg wieder einen Blick auf die, im Verhältnis zu Russland "geordnete", polnische Landschaft hatten, stellte sich sofort das Gefühl ein, zurück in der Zivilisation zu sein.
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1993 lag die politische Wende in Osteuropa erst kurze Zeit zurück und entsprechend hatte sich das äußere Erscheinungsbild des Landes nur wenig verändert.
Gleichwohl fiel uns auf, dass insbesondere ab Bialystok sehr viel gebaut wurde, vor allem Privathäuser, aber auch Industriegebäude. Auch an der Infrastruktur wurde fleissig gewerkelt, so dass sich bis heute das Bild positiv gewandelt hat.
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Schließlich erreichte der Zug in Kuznica Bialostocka die Grenze nach Weißrussland. Hier kamen zunächst die Polnischen Zöllner an Bord, die uns westliche Touristen aber ziemlich in Ruhe ließen.
Das Gepäck der zurück reisenden Russen, Weißrussen, Ukrainer usw. allerdings haben sie mitunter etwas genauer untersucht.
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Nach Erledigung der Zollformalitäten wurde der Zug auf die anderthalb Kilometer vom Bahnhof entfernte Umspuranlage gezogen. Hier begann ein ganz besonderes Erlebnis der Reise, nämlich die Umspurung der Waggons von der mitteleuropäischen Spurweite 1435 mm auf die russische Breitspur mit 1524 mm Gleisabstand.
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Die Umspuranlage in Kuznica liegt unter freiem Himmel und sie ist heute wohl außer Betrieb, da keine Fernzüge mehr über Grodno fahren (heute fahren die Fernzüge über Brest und Minsk nach St. Petersburg und Moskau. In Brest findet die Umspurung in einer Halle statt und man kann das heute noch erleben).

Praktiziert wurde die traditionelle Methode der Umspurung, d.h. die Schlafwagen(kästen) wurden mit Hilfe einer Hydraulik auf etwa 1,5 m angehoben. Die Drehgestelle blieben dabei auf den Schienen stehen, sie waren nur mit einem Zylinder, der für die Umspurung gelöst wurde, am Wagen befestigt.

In der modernen Variante findet die sog. automatische Umspurung statt. Dabei sind die Radscheiben beweglich auf den Achsen angeordnet und können nach außen bzw. nach innen verschoben werden, was durch langsames Fahren über Führungsschienen erledigt wird.
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In der Umspuranlage wurden die Wagen voneinander abgekoppelt und vor den überdimensionierten "Wagenhebern" (Hebeböcke genannt) positioniert.

Dann wurden die Hebeböcke an die Wagen herangefahren und die Lastteller unter dem Wagen in Position gebracht.

Dann begannen die Bahnarbeiter damit, die Fahrgestelle vom Wagon zu lösen, d.h. die Splinte aus den Haltezylindern zu ziehen.

Dann wurde der Wagen bzw. der komplette Zug per Hydraulik auf etwa 1,50 m hochgehoben.

Und dann .......

.... ja dann hatten die Arbeiter der Umspuranlage erstmal für gut 60 bis 90 Min Mittagspause (weshalb man auf den Bildern auch keinen Bahnarbeiter sieht).
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Wegen der Pause dauerte die Umspurung doppelt so lange, wie im Normalfall, also etwa 3 bis 4 Stunden.

Das war nicht sonderlich angenehm, denn wir saßen ja in den aufgebockten Waggons und kamen nicht raus. Am Bahnhof hatte man die Wagen einfach von außen abgeschlossen, damit keiner aussteigt. Außerdem, und das war unangenehmer, waren auch die Toiletten abgeschlossen worden, weil natürlich kein Bahnarbeiter, wenn er in der pausenfreien Zeit unter dem Wagen hantierte, eine "Dusche" abkriegen wollte. Vakuum-WCs waren damals noch (auch bei der DB und noch mehr bei der SZD) Mangelware.

Also standen nach und nach die meisten Passagiere an den Fenstern und warteten sehnsüchtig auf die Rückkehr der Arbeiter von der Pause bzw. auf den Fortgang der Umspuraktion.
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Tatsächlich erklang irgendwann die erlösende Sirene zum Pausenende und nach einer gefühlten halben Stunde darauf kehrten die Bahnarbeiter endlich an ihre Maschinen zurück.

Nun wurden die (inzwischen losen) Fahrgestelle mit Hilfe einer Spillanlage unter den Wagen hervorgezogen.
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An das letzte Fahrgestell der Regelspur hatte man die Fahrgestelle der Breitspur gekoppelt. Während also vorne die alten Fahrgestelle rausgezogen wurden, rückten von hinten die neuen, breiteren Fahrgestelle nach.

Dann wurden die Fahrgestelle wieder voneinander abgekoppelt und unter den Waggons in Position gebracht.
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Nachdem alle Fahrgestelle wieder an der richtigen Stelle standen, senkte man die Waggons wieder ab und befestigte die Fahrgestelle. Das verlief ziemlich synchron bei allen Waggons gleichzeitig und bald konnten die Wagen wieder zu einem Zug zusammengekoppelt werden, jetzt gezogen von einer russischen Breitspur-Lok.
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Anschließend wurde der Zug wieder zurück in den Bahnhof von Kuznica gezogen. Dort kamen die Weißrussischen Zöllner an Bord und die Fahrt wurde fortgesetzt.

Das einzige, worauf die Zöllner bei uns besonderen Wert legten, waren die 50 Dollar "Transitgebühr" pro Person für das Durchfahren des kurzen Stücks Weißrussland bis zur Litauischen Grenze.

Die Transitvisa hatten wir uns vorher besorgen müssen (links). Bezahlt wurde aber an der Grenze in bar. Dafür bekam man dann schöne rote Stempel in den Pass (rechts).

Wer kein Visa hatte, durfte nach Warschau zurück fahren, um sich dort eins zu besorgen.
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Kurz hinter Kuznica passierten wir dann die mitten im Wald verlaufende Grenze zu Weißrussland.
Dort hielt der Zug nochmal an und wurde außen untersucht und zwar von bewaffneten Uniformierten mit Hunden.
Alles recht martialisch.
Nach einer halben Stunde konnte die Fahrt fortgesetzt werden
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Nach etwa 20 km erreichten wir die Stadt Grodno (Hrodna auf russisch) an der Memel, wo der Zug wieder längere Zeit stehen blieb, bis die Weißrussischen Zöllner mit ihrer Kontrolle durch waren.

Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig drängelten sich im Übrigen viele Menschen mit massenhaft Gepäck (Kartons usw.). Die waren auf dem Weg nach Polen, um dort ihre Waren auf den Flohmärkten zu verkaufen. Diese Sachen kauften die Polen auf und boten sie wiederum auf deutschen Flohmärkten an.
Die "Mittlerrolle" der Polen ergab sich aus den Visabestimmungen: Polnische Bürger bekamen problemlos Einreisevisa nach Deutschland, während die Bürger aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nur Visa nach Polen erhielten.
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Endlich konnte die Reise weitergehen. Zunächst mussten etwa 40 km bis zur Litauischwen Grenze zurückgelegt werden und zwar mit Höchstgeschwindigkeit, die bei den völlig verzogenen Schienen und dem maroden Gleisbett allerdings nur bei etwa 50 km/h bzw. meist eher darunter lag. Also hatten wir viel viel Zeit, uns die vorbeiziehede Landschaft (überwiegend Kiefernwälder) in aller Ruhe anzuschauen.
PetersburgSchienen


Leider habe ich kein Foto von den wirklich abenteuerlichen Schienen der Strecke. Aber ich habe drei Jahre später in St. Petersburg die Schienen der dortigen Straßenbahn fotografiert. So ungefähr, wie auf diesem Foto muß man sich den Zustand der Gleisanlagen in Weißrussland, Litauen usw. zur damaligen Zeit vorstellen.
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Ganz besonders sehenswert an der Strecke waren aber nicht nur die Wiesen und Wälder, sondern vor allem die Bahnwärter(innen), die an den kleinen Bahnhöfen oder irgendwo in der Wildnis an ihren kleinen Bahnwärterhäuschen standen und mit Kelle oder Signalfähnchen dem Zug "salutierten". Besonders die Älteren standen in perfekter "Hab-acht-Haltung" und mit Orden geschmückt an den Gleisen, bis der Zug durch war (was bei der Geschwindigkeit durchaus dauern konnte).
Der Stolz, mit dem sie ihre Aufgabe versahen, war nicht zu übersehen.
Leider sind diese Posten inzwischen wahrscheinlich "wegrationalisiert" worden, ganz abgesehen davon, dass die Strecke zwischen Grondo und Vilnius inzwischen sowieso völlig abgebaut worden ist.

Für dieses Foto © Jo Perrey (aka "Dr. Kimble") (Titel: Bahnwärterin - unterwegs nach Tilsit)
Quelle: http://www.flickr.com.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Endlich erreichten wir die Grenze nach Litauen, wo uns die Litauischen Grenzbeamten einen Stempel in den Pass setzten.

Dieses Visum wurde übrigens nicht beim Litauischen Konsulat, sondern beim Lettischen Konsulat in Berlin beantragt und bewilligt.
Damals gab es für die drei Baltischen Staaten die Regelung, dass das Visum des einen Staates auch für die anderen beiden galt. Weil das Lettische Konsulat in Berlin war, ging es für uns etwas schneller und war außerdem, soweit ich mich erinnere, auch etwas billiger.
Mit dem Visum konnten wir uns dann innerhalb der Baltischen Staaten frei bewegen.
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Nach dem Grenzübertritt folgten wieder etwa 120 km endlose Wälder, unterbrochen von etwas Landwirtschaft und kleineren Ortschaften.
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Endlich, gegen Abend und nach insgesamt über 20 Stunden Fahrt, erreichten wir Vilnius, die Hauptstadt von Litauen. Dort wurden wir von Freunden abgeholt und in unser Quartier gebracht.
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Vilnius hatte 1993 etwa 540.000 Einwohner (2010 waren es 560.000). Die Stadt liegt an der Mündung der Vilnia in die Neris, die wiederum in Kaunas in die Memel mündet. Vilnius verfügt über eine ausgedehnte Altstadt, die zu den größten und besterhaltenen Europas zählt (seit 1994 UNESCO-Weltkulturerbe). Die Altstadt zieht sich, ausgehend vom Burgberg, an den Hängen auf dem linken Ufer der Neris hoch.
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Vom Burgberg hat man einen schönen Blick über die Altstadt und auch den Rest der Stadt.
Vilnius hat über 50 Kirchen und ist, anders als Lettland und Estland, deren Einwohner überwiegend Protestanten sind, sehr katholisch geprägt. Daher trägt Vilnius auch den Beinamen "Rom des Ostens".
Auch in der Architektur der Altstadt wird eine kulturelle Nähe zu Polen deutlich.
Riga und Tallin sind hingegen deutlich stärker durch Einflüsse der Hanse bzw. durch Skandinavien geprägt.
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Das moderne Zentrum von Vilnius, der Stadtteil Naujamiestis, liegt ebenfalls links der Neris.
Hier finden sich viele moderne Gebäude sowie etliche Hochhäuser. Das für westliche Augen, die durch die jahrzehntelange Propaganda des Kalten Krieges getrübt sind und die erst allmählich durch Aha-Erlebnisse zu neuem Durchblick gelangen, Besondere dieses Zentrums ist, dass es in architektonischer Hinsicht sehr modern ist.
Hier dominieren keineswegs einfallslose Plattenbauten, sondern hier hatten offensichtlich auch in der Zeit der SU viele Architekten die Chance, durchaus eigenwillige Gebäude zu konzipieren und zu bauen.
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Die Stadt bot jedenfalls eine gelungene Mischung aus Moderne und Vergangenheit, die man so nicht überall findet. Sie wirkte deutlich freundlicher und farbenfroher als noch 10 Jahre später manche andere Stadt in Tschechien, Polen oder Ungarn.

Gleichwohl waren 1993 insbesondere in der Altstadt und in manchen Randgebieten viele Häuser in einem äußerst beklagenswerten Zustand (siehe das Fotoalbum "Vilnius - Altstadt".).

Wie Anfangs erwähnt, hatte der Papst für 1993 seinen Besuch angesagt. Das hatte nicht nur einen (für uns negativen) Einfluss auf den Wechselkurs, sondern auch den positiven Effekt, dass alle verfügbaren Mittel in die Sanierung der Altbausubstanz gesteckt wurden. Die Stadt war gerade dabei, sich neu einzukleiden (d.h. es gab überall Baustellen).
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Rund um das historische Zentrum der Stadt einschließlich Altstadt mit gründerzeitlicher Ausdehnung waren seit den 60er Jahren Satellitenstädte (auf dem Panoramabild von Vilnius gut zu sehen) auf den Hügeln entstanden.
Hier hatte man sich in der Bautechnik tatsächlich auf die Plattenbauweise beschränkt und daher sahen diese Wohngebiete genauso aus, wie in Leipzig, Magdeburg oder Bremerhaven.

Und in genau so einem Wohngebiet haben wir dann gewohnt und zwar nach den ortsüblichen Maßstäben unerhört privilegiert. Wir konnten nämlich zu zweit eine Dreizimmerwohnung nutzen!
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Der Gipfel der Privilegien allerdings war, dass die einem Bekannten gehörende Wohnung ansonsten von ihm allein genutzt wurde. Als Mitglied einer Regierungsbehörde hatte man ihm das Privileg einer eigenen Plattenbauwohnung eingeräumt. Er hatte sie uns überlassen, weil er zu der Zeit in Deutschland war.

Allerdings war es über die bloße Größe der Wohnung hinaus mit den Privilegien nicht weit her. Haus und Umfeld machten keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck, die Türen waren doppelt gesichtert und gepolstert und der Müllschlucker im Gang stank und war ständig verstopft.
Der Clou des Ganzen aber war: Es gab in der Zeit unseres Aufenthalts kein warmes Wasser! Kalt duschen war angesagt! (vorübergehende Versorgungsschwierigkeiten im Stadtteil)
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Der Vorteil der Wohnung war allerdings, dass die Bushaltestelle direkt davor lag.
Busse waren und sind (neben den Oberleitungsbussen in der Innenstadt) das Hauptverkehrsmittel des ÖPNV der Stadt. Es gibt nämlich keine Straßenbahn, U-Bahn o.ä.
Mit einem solchen Bus sind wir täglich in die City und zurück gefahren. Das war ein Erlebnis für sich!
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Wir kannten zwar durchaus "volle" Busse. Zu Freimarktzeiten oder bei sonstigen Großveranstaltungen musste man gelegentlich etwas zusammenrücken. Aber so volle Busse, wie in Vilnius, hatten wir bis dahin ohne Zugabe von Öl nicht für möglich gehalten. Die Menschen standen so eng beieinander, dass jegliche Bewegung unmöglich war. Taschendiebe hätten keine Chance gehabt! Wer aussteigen wollte, musste sich irgendwie geschickt aus der Menschenmasse herausschlängeln, denn herausboxen wäre nicht möglich gewesen. In der Kategorie "wie viele Leute passen in einen Bus?" hätte es Vilnius locker ins Guinness Buch der Rekorde geschafft.
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Gegenüber von der Wohnung befanden sich Geschäfte und davor (wahrscheinliche "private") Marktstände, wo z.T. Bäuerinnen aus dem Umland frische Waren verkauften, wo z.T. aber auch die üblichen fliegenden (oft weißrussischen) Händler mit ihren "importierten" Westwaren saßen. Einmal die Woche kamen Tanklastwagen aus Weißrussland und verkauften Milch direkt aus dem Tank (Eimer drunter, Hahn auf!). Man mag nicht darüber nachdenken, was sonst so in den Tanks transportiert wurde. Wo wir gerade bei der Hygiene sind: Um frisches Fleisch zu kaufen, sind wir zur Großmarkthalle gefahren. Erinnerte irgendwie an einen Markt in Afrika. Tote Tiere, lebende Fliegen und kaputte Kacheln. Andere Länder, andere Vorschriften.
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Die Rückfahrt:
Wir hatten zwar eine Rückfahrkarte, aber noch keine Bettkarte für die Rückfahrt. Also sind wir zum Bahnhof, um eine zu besorgen (allerdings tagsüber, abends wäre es nach Auskunft unserer Freunde zu gefährlich gewesen). Nachdem endlich jemand bereit war, uns Auskunft zu geben (Englisch konnte kaum einer und Russisch wollte kaum einer), erfuhren wir nur, dass wir die Bettkarte erst einige Stunden vor Ankunft des Zuges bekommen konnten. Sobald nämlich der Zug die Litauische Grenze passierte, gab der Schaffner telefonisch weiter, welche Plätze noch frei waren. Diese wurden dann an die Wartenden vergeben. Also sind wir am letzten Tag mit dem Gepäck zum Bahnhof und haben dort erst auf die Bettkarte und dann auf den Zug gewartet.
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Als der Zug abends endlich kam und wir ins Abteil wollten, kam uns eine ungeheure Alkoholwolke entgegen und in den Betten schnarchten zwei total betrunkene Russen ihren Rausch aus. Reaktionsschnell wandte sich Bärbel (mit Dollars) an die Schaffnerin und verlangte ein anderes Abteil. Tatsächlich bot diese uns zwei andere Betten an (deshalb die Änderungen auf den Karten).

In dem Abteil saßen zwei Frauen mittleren Alters aus St. Petersburg. Sie erzählten uns, dass sie zum Flohmarkt nach Gdansk wollten, um etwas Geld zu verdienen, weil ihre Männer nur 50 Dollar im Monat verdienten. Sie zeigten uns ein paar Gürtel, Matrjoschkas usw. und ungewollt auch einige dicke Dollarbündel (schlecht) versteckt am Körper. Nach der Abfahrt konnten wir übrigens beobachten, wie ein anderer Fahrgast überall im Waggon Sachen versteckte.
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Die Überquerung der Grenze nach Weißrussland war unproblematisch, die Litauer kontrollierten nur die Pässe. Je näher wir aber Grodno und dem Weißrussischen bzw. Polnischen Zoll kamen, umso nervöser wurden die beiden Frauen im Abteil. Schließlich kam der Zoll, nickte unsere Westpässe ab und verlangte von den Frauen, ihre Koffer zu öffnen. Eine der beiden stand kurz vor dem Kollaps, als der Zöllner zu wühlen begann. Er hatte schon die unten in Ölpapier eingepackten Sachen erreicht, als sie plötzlich erlöst wurde. Ein Zöllnerkollege hatte den Schmuggler erwischt, der seine Sachen im Waggon verteilt hatte. Er rief nun seinen Kollegen um Hilfe. Dieser klappte die Tasche zu, sagte "OK" und verschwand. Den beiden Frauen fielen gleich mehrere Steine vom Herzen. Wir erfuhren nicht, was sie wirklich schmuggelten, aber es musste wertvoll sein (wegen der vielen Dollars). Beliebte Schmuggelgüter waren damals jedenfalls Nachtsichtgeräte und andere militärische "Dinge".
Der Rest der Fahrt verlief ruhig, u.a. im plüschigen Speisewagen mit den unvermeidlichen Gardinchen und Blümchen am Fenster.